Die in Hamburg beheimatete Komponistin und Sängerin Rosa Morena Russa (bürgerlich Kateryna Ostrovska)
macht eine zeitgeistige Musik. Sie komponiert über kulturellen Grenzen hinweg, setzt sich mit
unterschiedlichsten Musiktraditionen auseinander und verbindet diese in ihrer Musik zu einem einzigartigen
Blend. Kateryna wurde im Süden Russlands in einer jüdischen Musikerfamilie geboren, aufgewachsen
ist sie in Russland und in der Ukraine. Mit 17 Jahren kam sie nach Deutschland und hat neben
ihrer musikalischen Karriere Jura studiert, jedoch ohne konsequent in diesem Beruf zu arbeiten.
„Blondzhendike Lider“ ist ein Album, das als "modernes jüdisches Kunstwerk" konzipiert wurde, aber was
kann das sein: ein jüdisches Kunstwerk? Im Idealfall sollte es "Jiddischkeit" beinhalten. Stellen Sie sich zwei
Menschen vor, von denen der eine sein ganzes Leben in Brooklyn und der andere in Witebsk (Belarus) verbracht
hat. Sollten sich die beiden zufällig begegnen, würden sie verblüfft feststellen, dass sie das gleiche
Essen aßen und dass ihre MüPer sie mit gleichen Worten schalten und lobten. Möglicherweise haben sogar
ihre Klassenkameraden sie auf eine ähnliche Art und Weise gehänselt. Eine weitere Gemeinsamkeit ist die
MulSkulturalität, denn sowohl der Weißrusse als auch die Amerikanerin tragen zusätzlich die Kultur ihres
Heimatlandes in sich. Die jiddische Sprache selbst liefert das beste Sinnbild dafür, denn sie basiert auf dem
MiPelhochdeutschen und ist in hebräischen Buchstaben noSert.
Die Geschichte des jüdischen Volkes ist auch eine Geschichte von Flucht und Auswanderung mit der daraus
resulSerenden Notwendigkeit, sich mit verschiedenen Kulturen zu befassen und zwischen verschiedenen
Welten zu „wandern“ . Die dies begleitende zuweilen selbstempfundene AndersarSgkeit und „das Fehlen
einer IdenStät als Hauptmerkmal der jüdischen IdenStät“ ist, in Anlehnung an Jacques Derrida, eines der
wichSgsten Antriebselemente und DefiniSonsmerkmale von „Radical Jewish Culture“ nach John Zorn. Die
fortwährende IdenStätssuche bereichert die Kunst und macht kreaSve Prozesse zu einer persönlichen Notwendigkeit.
„Blondzhendike Lider“ bedeutet aus dem Jiddischen übersetzt “die wandernden Lieder” oder
“die wandernden Gedichte” und beinhaltet eine Anspielung an den berühmten Roman von Scholem Alejchem
“Blondzhendike Shtern”. Künstler und Dichterinnen wanderten in fremde Länder und KonSnente aus,
mit eigenen Werken im Koffer, und das jüdische kulturelle Erbe folgte ihnen. Nun haben die zahlreichen
Mitwirkenden von “Blondzhendike Lider” die alten Immigrantenkoffer vom Dachboden geholt und lassen die
bezaubernde Welt des jiddischen Gedichtes in einem modernen musikalischen Gewand erstrahlen.
„Blondzhendike Lider“ hat mehrere Ebenen: es definiert sich als zeitgenössisches jüdisches Kunstwerk, ist
Prozess und Produkt der IdenStätssuche der jüdisch-ukrainisch-deutschen Musikerin Kateryna Ostrovska
(die aus diesem Grund ihr Pseudonym Rosa Morena Russa für diese Veröffentlichung abgelegt hat). Vielleicht
handelt es sich sogar um ein pseudowissenscha_liches Experiment, zwecks Klärung inwieweit dieser
„Kulturencocktail“ ein Plus, ein Minus oder ein Aliud an "Jiddischkeit" bedeutet.
Der erste kreaSve Impuls zur Entstehung keimte in einer langen winterlichen Pandemienacht, als Kateryna
Ostrovska den Gedichtband „Spli2er von Licht und Nacht“ von vier jiddischen Dichterinnen las. „Ich war komple2 überwäl?gt von den Bildern dieser Gedichte. In vielen erkannte ich meine Gefühlswelt komple2
wieder. Dass zwischen mir und den Dichterinnen fast ein Jahrhundert lag, war schwer zu glauben. Ich fühlte
Nähe, Zugehörigkeit, Trost und Heimat, wollte mit diesen Frauen kommunizieren, mit deren geis?gen Quintessenzen,
die es vermochten, mich über die Jahrzehnte und deren eigenen Tod hinaus so umzuhauen. Die
Vertonung des ersten Gedichts („Shlanke shiffn“ von Anna Margolin) fühlte sich fast wie eine spirituelle Sitzung
an. Ich habe angefangen die Biographien von Dichterinnen zu lesen, um nach Erklärungen für diesen
fast schmerzlichen Gleichklang zu suchen, und stellte fest: Frau, Künstlerin, Jüdin, Immigran?n. Diese Feststellung
war der erste Anstoß für „Blondzhendike Lider“. Ich wollte weitermachen, einen Austausch mit weiteren
Künstlern anregen, die wie ich mit diesen Bildern zusammengehen, um daraus eine ‚geis?ge Heimat
der Heimatlosen’ erschaffen können.“
Nun ist das Werk vollbracht mit 50 Minuten Spiellänge, über 50 beteiligten Künstler*innen und einer Reiseroute,
die sich über Hamburg, Berlin, New York, Rio de Janeiro, Buenos Aires, São Paulo, Sankt Petersburg,
Chisinau und Sofia erstreckt. Manche von ihnen sind ziemlich bekannt, andere gar nicht. who cares ? Die
einen haben sich intensiv mit dem musikalischen Erbe ihrer Kultur beschä_igt, es geradezu inhaliert, während
andere sich mehr mit der ihres Heimatlandes bzw. Wohnort befassen. Neben Vertonungen von Kateryna
Ostrovska beinhaltet das Album auch die „Musikleihgaben“ von Koryphäen der jüdischen Musik wie
Josh Waletzky, Efim Chorny und Dr. Alan Bern (Künstlerischer Leiter von „Yiddish Summer Weimar“ und
Bandleader der berühmten Band „Brave Old World“), der mit seiner Vertonung von Kadya Molodowsky „iz
mayn shtub den a shif“ eine speziell für dieses Album erschaffene KomposiSon beigesteuert hat. Zwei weitere
bedeutende Mitwirkende sind Marcelo Moguilevsky (ARG) und Benjamim Taubkin (BR), die bereits davor
im Bereich der Freien Musik zusammengearbeitet haben, was sich aber erst nach den ersten KonzepSonsbesprechungen
offenbart hat – ein wundersamer Zufall. Die Orchestrierungen hat „Blondzhendike Lider" der
Feder von Paulo Aragão zu verdanken. Kateryna Ostrovska entdeckte sein Werk auf dem Grammy nominierten
Album „Noturno Copocabana“ von Guinga. Im ersten Gespräch zweifelte Paulo, ob er die ÄstheSk der
jüdischen Musik treffen könne, da er noch nie mit dieser gearbeitet hat. Darauf antwortete Kateryna, dass es
völlig ausreiche, wenn er einfach nur Paulo sei. „Dass Paulo ein Glücksgriff und ein Segen für diese Produk?-
on war, habe ich spätestens gewußt, als er nach Gedichtsübersetzungen fragte- noch bevor er nach Musik
verlangte. Und das als Arrangeuer! Da wusste ich, dass er sich genauso von den poe?schen Bildern durch die
Musik führen lässt. Umso mehr fühlte ich mich bestä?gt, als Alan Bern meinte, er wäre zu Tränen gerührt als
er zum ersten Mal das Arrangement von „iz mayn shtub den a shif“ hörte, es wäre das Schönste, was in seiner
ganzen musikalischen Lauaahn jemals jemand mit seiner Musik gemacht habe.“ Neben den Vertonungen
enthält das Album eine „Nachdichtung“ auf das Stück „Doce de coco“ des berühmten brasilianischen
Komponisten Jacob do Bandolim, Sohns einer jüdischen Einwanderin aus Lodz. Ein Lied in deutscher Sprache
„Dunkelheit“ ist auch auf dem Album – als scherzha_e Andeutung darauf, dass Kateryna sich, wie alle yekki
(Deutschjuden), auch gerne der deutschen Sprache für ihre Kunst bedient. Darauf zu hören ist ein Streicherarrangement
des Hamburger MulSinstrumentalisten Friedrich Paravicini, unterstützt von dem Perkussionsarrangement
des wohl außerhalb Brasiliens bekanntesten Pandeiristen Marcos Suzano.