Im Mai 2006 feierte der Chor des Bayerischen Rundfunks sein 60jähriges Bestehen. Eine besonders rasante künstlerischen Entwicklung nahm er in den Jahren 1990–2005 unter der Leitung von Michael Gläser. Regelmäßiger Gastdirigent in dieser Zeit war Rupert Huber. Ab Herbst 2005 übernahm mit Peter Dijkstra ein wahrer Shooting Star der Chorszene und ein äußerst vielseitiger
Sänger und Dirigent die Leitung des Chores. Die vorliegende CD bietet einen Rückblick auf die jüngste Geschichte des Ensembles und bildet gleichzeitig
eine kleine Anthologie des romantischen Chorliedes. Das 19. Jahrhundert erlebte eine Renaissance der weltlichen Chormusik und die Gründung unzähliger
Chöre und Gesangsvereine. Nicht zuletzt Johannes Brahms begann seine professionelle Tätigkeit u.a. mit der Leitung eines Frauenchores und schuf ein umfangreiches Chorwerk.
Leise Töne der Brust
Für die Chormusik war das 19. Jahrhundert eine Phase tiefgreifender Veränderungen. Die Pädagogik förderte die Volksbildung durch das Singen von Liedern, das sich emanzipierende
Bürgertum entdeckte den Chorgesang als Medium für Repräsentation und Identifikation.
So verließ die vokale Mehrstimmigkeit ihren
angestammten Platz in Kirche und Liturgie und eroberte sich den Salon, den Konzertsaal, die Bühne der Sängerfeste. Deutsche Städte leisteten sich Singakademien, große – bisweilen
gigantische! – Laienchöre widmeten sich der Aufführung von geistlichen Oratorien. Noch wichtiger für die musikalische Breitenkultur
wurde jedoch das Singen weltlicher Chormusik. Allerorts gründeten sich Gesangvereine,
man traf sich zum geselligen Musizieren
ohne Publikum, im Vereinslokal, am Stammtisch oder bei einer Landpartie.
Diese Entwicklung ging Hand in Hand mit der „Wiederentdeckung“ des Volksliedes, in dem Dichter und Musiker das Ideal einer längst verlorenen Einfachheit und Ursprünglichkeit erfüllt sahen. Poeten der Romantik sammelten überliefertes Volksgut und schufen Neudichtungen

im Volkston. Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder, von Clemens Brentano und Achim von Arnim 1805 bis 1808 herausgegeben,
wurde eine der wichtigsten Textquellen für die Vokalmusik der folgenden Jahrzehnte. Doch nicht nur das Volkslied, das durch seinen Einklang von Wort und Weise das Singen impli-ziert, sondern auch die zeitgenössische Lyrik wurde von den Komponisten des 19. Jahrhunderts
vereinnahmt. Die Beziehung zwischen Dichtung und Musik wurde so innig, das Repertoire
des Solo- und Chorliedes so beliebt, dass wir heute viele Verse nur in Verbindung mit einer Melodie kennen. Die Themen der vertonten Texte sind weit gespannt: fröhlicher Minnesang, übermütige Jagd, ruhelose Wanderschaft,
idyllische Natur- und naive Märchenszenen.
Vorherrschend jedoch sind leise Töne der Brust, Wehmut und unstillbare Sehnsucht,
Verlust und Schmerz, der Wunsch nach Erfüllung im Tod. Und immer wieder dient die Natur als Bild für subjektive Empfindungen.
Den Komponisten bot die neue Chorbewegung
ein breites Arbeitsfeld. Sie gründeten Ensembles, leiteten Proben und Konzerte und lieferten die geeignete Literatur. Friedrich Silcher
etwa, der in Tübingen einer akademischen Liedertafel – also einem Männergesangverein – vorstand, hat uns weit über 100 Chorlieder für vierstimmigen Männerchor hinterlassen. Ein anderes prominentes Beispiel ist Johannes Brahms, der in Hamburg einen Frauenchor dirigierte
und gerne die schwärmerische Verehrung
der 40 Damen in Kauf nahm. Schon damals äußerten sich Kritiker argwöhnisch über Kunst, deren Popularität auf Volkstümlichkeit beruht. Diese Skepsis hielt jedoch keinen Tonsetzer davon ab, das Volkslied auf unterschiedlichste Weise in sein Werk zu integrieren. Die schlichte mehrstimmige Fassung eines Strophenliedes stellt die erste Stufe der Aneignung dar. Das Heimattal ist ein Muster für diesen Liedtyp, der den Chorgesang allen Schichten erschließen sollte. In seinen Romanzen für Frauenstimmen geht Robert Schumann einen Schritt weiter. Mit übersichtlichen Formen, eingängigen Melodien und folkloristischen Klängen ahmt er das Volkslied
nach; in diesem vertrauten Rahmen jedoch erreicht er mit kleinen Effekten – einem pfiffigen Rhythmus, einer überraschenden Dissonanz – eine subtile Umsetzung des Textes. Die alte Ballade Es waren zwei Königskinder ist in der Bearbeitung von Max Reger in jedem Moment präsent und dennoch in manchen Abschnitten kaum wiederzuerkennen, da sie durch Chromatik
und spätromantische Harmonik geradezu
verfremdet wird. Der Lindenbaum hat den umgekehrten Weg genommen: Ursprünglich ein Kunstlied in Schuberts Winterreise, wurde die beliebte Melodie in einer leicht
simplifizierten Version zum Volkslied par excellence und in der Folge auch mehrfach für Chor gesetzt.
Dass weltliche Chormusik freilich auch ohne die Verankerung im Volkslied auskommt, hat Johannes Brahms mit einem Spätwerk de-monstriert. Seine Fünf Gesänge op. 104 bilden mit ihrem souveränen Gespür für den Chorklang,
ihrer kontrapunktischen Meisterschaft und strenger Konzentration in Satz und Form einen
Höhepunkt romantischer Chorlyrik, der sich mit der Madrigalkunst der späten Renaissance wie auch mit dem jahrhundertealten Anspruch geistlicher Vokalmusik messen kann.
Mit einer Auswahl verschiedenartiger Werke
stellt diese CD also eine kleine Anthologie des romantischen Chorliedes dar. Aufnahmen mit dem Chor des Bayerischen Rundfunks aus den Jahren 1990 bis 2004 gewähren zugleich einen Rückblick auf die jüngere Geschichte des Ensembles, das im Mai 2006 seinen 60. Geburtstag feiern konnte. Eine entscheidende Prägung erfuhr der Chor in dieser Zeit durch Michael Gläser, der 1989 als Künstlerischer Leiter in München antrat. Rupert Huber arbeitet
regelmäßig als Gastdirigent mit dem Chor zusammen und ist auf dieser CD mit einem seiner
Spezialgebiete, der Chormusik von Robert Schumann, vertreten. Die jüngste Einspielung der Sammlung weist in die Zukunft. Sie war die erste gemeinsame Produktion mit Peter Dijkstra, der 2005 die Leitung des Chores übernommen
hat.
Judith Kaufmann